

«Ein Lügner ist nicht automatisch ein schlechter Mensch»
Was ist Lüge, was ist Wahrheit? In einem spannenden Vortrag vor über hundert Witikerinnen und Witikern erzählte Sonderstaatsanwalt Rolf Jäger von aussergewöhnlichen Kriminalfällen und verriet, warum vermeintlich perfekte Lügengeschichten verdächtig sind.
Ein Fall, der niemanden im Publikum unberührt liess: Ein sechsjähriges Mädchen wird von seinem Vater sexuell missbraucht. In Begleitung seiner Grossmutter schildert es auf der Polizeiwache, was der Vater gemacht und welche Schmerzen es dabei empfunden habe.
«Die Aussagen des Kindes waren durchaus glaubhaft», erklärt Rolf Jäger, der als Staatsanwalt mit diesem Fall in zweiter Instanz befasst war. Die Anklage gegen den Vater hatte trotzdem keinen Erfolg. Der Grund: Die Grossmutter hatte das Kind vor der polizeilichen Einvernahme zu einer Psychologin gebracht. «Die Verteidigung des Vaters argumentierte, die Aussage des Kindes sei durch diese Gespräche beeinflusst worden», erklärt Jäger. Der Fall sei das traurige Beispiel einer «gescheiterten Wahrheitsfindung».
«Der Postraub hat uns alle verändert»
Rolf Jäger ist ein erfahrener Staatsanwalt. In seiner langen beruflichen Laufbahn untersuchte er Mordfälle, Sexualdelikte und Raubfälle. Bekannt wurde Jäger, als er in den neunziger Jahren die Posträuber vor Gericht brachte. Die Ermittlungsbehörden arbeiteten unter einem bis dahin nicht dagewesenen medialem Druck. «Dieser Fall hat uns alle verändert», sagt Jäger heute.
In seinem Vortrag im reformierten Kirchgmeindehaus gibt Jäger die über hundert Witikerinnen und Witikern einen Einblick in seine Arbeit. Er erzählt, mit welchen Techniken er Einvernahmen führt und wie er Lügnerinnen und Lügnern auf die Schliche kommt. Nämlich, in dem er sie ausreden lasse und ihnen genau zuhöre. Nur so komme er der Wahrheit nahe.
«Wenn jemand lügt, ist er deswegen nicht automatisch schuldig»
Dass sich Aussagen im Verlaufe der Zeit geringfügig veränderten, sei normal. Verdächtig sei hingegen, wenn eine angeschuldigte Person über mehrere Einvernahmen hinweg immer die gleiche, perfekt zusammengezimmerte Geschichte erzähle. Aber: Wenn jemand lüge, heisse das noch lange nicht, dass diese Person ein schlechter Mensch sei, gibt Jäger zu bedenken. Und schon gar nicht, dass die Person deswegen schuldig sei.
Als Staatsanwalt müsse man Menschen mögen, sonst würden sie sich im Gespräch nicht öffnen. Dass Jäger Menschen mag, spürten die Witikerinnen und Witiker. Viele nützen die Fragerunde, um ihren Dank für den spannenden Nachmittag auszudrücken.

