Der Verein

Vor 50 Jahren

Sind Sie schon auf der Bank der Haltestelle 91 an der Buchzelgstrasse, vor dem Einkaufszentrum Witikon, gesessen? Rechts gegenüber das grosse, flache Gebäude der Migros, links  der Eingang zum Zentrum, weiter oben die Einfahrten zur Tiefgarage. Am Wochenende Rudel von Automobilen, die ein- und ausfahren, meistens in Eile. Einige halten das Zentrum für ein Drive in und scheuchen in forschem Tempo die Fussgänger wie lästige Krähen vom Gehsteig und den Fussgängerstreifen auf. Vor grossen Feiertagen sind die Gehsteige bis hinunter zu den Ampeln auf beiden Seiten mit Fahrzeugen verstellt. Morgens ziehen Kinderscharen durch, rufen sich Sprüche zu, hasten verspätet zu ihren Stunden im Langmattschulhaus. Etwas später kommt eine Schaar Kindergärtler, von zwei Damen geführt, in umgekehrter Richtung aus dem Zentrum und wandert zum Kindergarten Buchholz. Buntes Leben, Geschäftigkeit, Betrieb. Man spürt den Puls von Witikon.
Heute sitzen wir mit einer alteingesessenen Witikerin auf der Bank (sie sagt zwar von sich, sie wohne noch nicht lange hier, erst 50 Jahre). Mit ihr blenden wir langsam zurück: Entlang der Buchzelgstrasse lichten sich die Gebäude, auf der linken Seite verschwinden sie nach und nach ganz und geben den Blick zum Stöckentobel frei. Aus dem, was heute die Tiefgarage des Aparthotels Buchzelg ist, kommt ein forscher Reiter auf seinem Ross hervor und reitet über die Wiesen, die noch keine Buchholzstrasse mit ihren Gebäuden überdeckt, in Richtung Wald. Ein Haus verschwindet samt seinem Milchladen, immer mehr Wiesen dehnen sich aus, jetzt schmilzt auch das Einkaufszentrum weg. Wo sich heute das Migrosgebäude räkelt, erscheint ein kleines Bauerngut. Wir sind irgendwann zwischen 1960 und 1970 gelandet.
Die nahe Coop Filiale an der Witikonerstrasse freut's, sie hat jetzt kaum mehr Konkurrenz. Da und dort noch ein kleiner Laden. Wer grössere Einkäufe tätigen will, muss mit dem Bus zum Römerhof, oder noch besser zum Kreuzplatz fahren. Den 34er gibt es schon, aber er fährt nur alle 20 Minuten und wendet bei  der Berghaldenstrasse. Weiter oben sind die Landwirte an der Arbeit. Ob sie schon an die Überbauungen denken, die einmal wie gefrässige Raupen Glockenacker, Oetlisberg, Looren, Wiesliacher zernagen werden? Noch fahren sie mit dem Traktor auf den Acker, Melken ihre Kühe im Stall, pflegen ihre Obstbäume und spalten Scheite für den Winter.
Wo heute die CS Bank an der Witikonerstrasse steht, bedient noch die alte Post an zwei Schaltern ihre Kunden. Auch sie hat ihre Geschichte: Einmal soll ein Räuber von einem Komplizen in einem grossen Koffer abgestellt worden sein. In der Nacht sei er dann aus dem Koffer herausgestiegen und habe sich mit Kasseninhalt und Briefmarken aus dem Staub gemacht. Mit wenig Erfolg, trotz seiner originellen Idee, denn er wurde wenig später von der Polizei geschnappt. Jedenfalls scheint der Ort Räuber anzulocken, wie das Personal der CS vor ein paar Jahren am eigenen Leib erfahren musste. Dort war dann nicht der Räuber im Koffer, sondern das Personal im Sicherheitsraum verstaut, und das Grossaufgebot der Polizei  brachte als einzigen Erfolg die stundenlange Abriegelung Witikons von der  übrigen der Welt. Für einmal gab es wieder gemeinsamen Gesprächsstoff in Witikon.
Was hat sich alles geändert, in diesen 50 Jahren? In dem Mass, wie die Häusermasse zugenommen hat, ist das Netz der Kontakte zwischen den Einwohnern dünner geworden. Verschwunden ist es noch nicht, dann und wann passieren Dinge, die man nur in einem Dorf für möglich hielte: Vor ein paar Jahren z.B. haben die Glocken der Reformierten Kirche an Neujahr 3 Minuten länger geläutet, weil jemand die Klänge per Telefon nach Washington übermitteln wollte, wo amerikanische Freunde nostalgisch den romantic bells in Switzerland lauschten. Das gibt es noch. Aber auch immer mehr Menschen, die in ihren Wohnungen nach dem Tod des Partners oder der Partnerin vereinsamen, immer mehr Unbekannte, die grusslos an einander vorbei laufen, Menschen, die sich nicht einmal mehr ansehen. Es könnte nicht schaden, wenn sich die Menschen in Witikon etwas öfter ansprechen würden.