Der Verein

Aussenseiter

Was Zürich fehlt, sind Plätze, die diesen Namen verdienen. Plätze, wie man sie in Italien auch in der kleinsten Stadt findet, Orte, wo die Menschen zusammenkommen, plaudern, diskutieren, flanieren, musizieren, in Gruppen herumstehen, sitzen oder geschäftig weiterlaufen, kurz: Freiräume, um unter freiem Himmel in Gemeinschaft zu sein. Stellen sie sich den Domplatz von Perugia vor, mit steilen Stufen zum mittelalterlichen Dom hinauf, an einem heiteren Sommerabend, kurz vor dem Eindunkeln. Plötzlich steht eine hagere weibliche Gestalt auf und beginnt wild zu gestikulieren. Dank ihrer tragende Stimme versteht man auch auf der andern Seite des Platzes, wovon sie spricht: Der Untergang der Welt steht unmittelbar bevor. Drohend fuchtelt sie mit den Fäusten. Man scheint sie zu kennen, keiner schüttelt den Kopf, manche lächeln. Dieser oder jeder spricht sie sogar an. Sie gehört eben zur Gemeinschaft.
In Zürich hat einmal einer auf dem Klusplatz versucht, das Ende der Welt zu verkünden und die Vorbeigehenden zur Umkehr zu mahnen, zwischen einfahrenden Bussen, abfahrenden Strassenbahnen und hastenden Menschen, die ihm verärgerte Blicke zuwarfen. Der Prediger verschwand, bevor jemand die Polizei herbeirief, vom Winde verweht wie die Zettel, die er auszuteilen versuchte. Bahnhofplatz, Bellevue, Paradeplatz, Bürkliplatz: kaum mehr als Vorwände, um Tramhäuschen aufzustellen. Freuen wir uns also am Karl Ochsner- und am Konditor Süssliplatzplatz in Witikon, solange sie nicht auf dem Altar der höheren Renditen geopfert werden. Hier lebt noch Gemeinschaft, man kann Bekannte treffen, Markstände aufstellen, musizieren, den Kindern mit Kleineisenbahnen eine Freude machen, und nur selten droht einem dabei ein Taxi oder Lieferwagen über die Füsse zu fahren. Bloss die Aussenseiter, die können sich auch hier nicht eingliedern. Oder haben Sie schon einmal Merlin vor der Kleiderreinigung eine seine Predigten an Luzifer halten hören?
Sie kennen Merlin nicht? Er hatte seine Auftritte an dem einzigen Ort, an dem auch bei uns Aussenseiter versuchen können, sich in eine Gemeinschaft einzufädeln: im Bus. Noch vor einigen Jahren kannten die meisten Witiker Fahrgäste der Linie 34 die mächtige Gestalt mit dem napoleonischen Zweispitz. Wenn er am Klusplatz einstieg, blieb er meistens in der Nähe einer Türe stehen und bewegte tonlos die Lippen. Kaum fuhr der Bus ab, erhob er die Stimme: „Ja, ja Luzifer, du meinscht, das hascht du wieder ganz schlau gemacht! Wenn es an jeder Strassenäcke ein Fitnesszentrum hat, tänken die Leute nur noch an ihren Body und vergessen ihre Seele. Aber ich sage dir, du wirscht auf den Arsch fallen mit deinen Zentren, denn es wird eine grosse Krise kommen und die Leute werden erschrecken und werden ihren Body vergessen. Du bischt lang nicht so schlau, wie du glaubscht.“ So ging das dann weiter bis zu den wechselnden Haltestellen, an denen er ausstieg.
Fahrgäste, die ihn noch nicht kannten, begannen jeweils, auf ihren Sitzen ungemütlich hin und her zu rutschen und mit raschen Blicken abzuschätzen, wie weit es bis zur nächsten Tür war und ob sie unbehelligt an ihm vorbeikommen könnten. Die anderen schmunzelten, und nicht wenige schätzten sogar seine Predigten, denn er las offensichtlich die Presse und las immer die neuesten Artikel, die er dann auf seine Art verarbeitete. Als ihn einmal zwei junge Gymnasiastinnen fröhlich lachend ansprachen, sass er bald darauf ihnen gegenüber und die drei führten ein lebhaftes Gespräch. Während einiger Monate hielt Merlin keine Predigt, trug keinen Zweizack und sass brav auf einem Doppelsitz, mit dem unvollendeten Modell eines englischen Jagdflugzeugs aus dem 2. Weltkrieg auf den Knien. Wer ihn darauf ansprach, erfuhr erstaunliche Dinge über die Art, wie er es in der geschützten Werkstatt, in der er arbeitete, fertigstellen und dann auf der Allmend testen wollte. Jetzt sieht man ihn schon lange nicht mehr. Schade!
Etwas weniger vergnüglich und lehrreich, aber irgendwie auch dazu gehörend war der "Buschauffeur", vermutlich wirklich ein ehemaliger „VBZ-ler“, denn anfänglich ging er immer nach vorn zum Führerstand und verwickelte dort den Kollegen (Kolleginnen gab es damals kaum) in ein Gespräch, das er unentwegt weiterführte, auch wenn der andere nur noch mir Hmm und Mmm antwortete. Mit der Zeit mochte er den Gang nach vorne nicht mehr antreten (oder war er einmal zurechtgewiesen worden?). Von da an sass er immer nahe bei der Mitte und schimpfte unentwegt auf den da vorne: „So fährt man doch nicht! Schon wieder so ein Ruck! Das sind doch Stümper, wo haben die das Handwerk gelernt?“. Keiner fuhr ihm sanft und zugleich zügig genug, die konnten doch keine Rechts- von einer Linkskurve unterscheiden, und wie sie die Schlyfi nahmen! Auch er hat ausgeschimpft und ist verschwunden, und irgendwie fehlt auch er unter den Fahrgästen.
Ein anderer Selbstgesprächler war um einiges vergnüglicher, denn er erteilte sich untentwegt selber vernünftige Ratschläge, die er offenbar nie befolgte. Einmal war er besonders erregt und laut: „Warum bist du nicht ausgewandert? Du hättest es können, du hättest eine wirkliche Chance gehabt. Und was hast du gemacht? Nichts! Selber schuld, wenn es dir jetzt verschissen geht, nimm dich nur selber bei der Nase.“ Tja, was sollte man da noch hinzufügen? Soviel Einsicht hat nicht jeder, oder jedenfalls nicht so laut.
Aussenseiter: Wer sie ansieht und anhört, kann viel lernen, vor allem über sich selbst. Es braucht manchmal nur ein kleines Blutgerinnsel, um auch zu ihnen zu gehören, aber wenn wir sie ganz verdrängen, ist unsere Welt definitiv verarmt. Hoffen wir, dass sie weiterhin wenigstens bei verständnisvollen Menschen einen Karl Ochsnerplatz finden, von dem sie nicht gleich vertrieben werden.